Mein Buch

Alle potenziellen Leserinnen und Leser meines Buches sollen einen kurzen Einblick in dessen Genesis bekommen. Ich will es so tun, als ob ich im Kreis von Freunden und Bekannten darüber reden würde. Darum scheue ich mich auch nicht, Euch in der letzten Phase meines Lebens davon zu berichten, was mich seit nunmehr ziemlich genau vierzig Jahren beschäftigt und umtreibt.

Es begann mit einem Besuch eines jüdischen Ehepaares in meinem Heimatdorf Burghaun, wo ich seit 1973 einer der Nachfolger meines Vaters auf der Pfarrstelle war. Das Ehepaar waren Inge und Fred Heiser aus New York. Inge war eine geborene Nussbaum aus Burghaun, und sie war die Einzige aus ihrer unmittelbaren Familie, die den Holocaust überlebt hatte, ihr Bruder Samuel war noch vor dessen Beginn nach England entkommen. Als sie nach Kriegsende 1945 schwach und elend in ihrem Heimatdorf ankam, wurde sie von der Familie Roß liebevoll aufgenommen und bis zu ihrer Ausreise in die USA wie ein eigenes Kind umsorgt. Im Sommer 1974, es kann auch 1975 gewesen sein, kamen Inge und Fred nach Burghaun, um die Familie Roß zu besuchen. Heide und ich luden die beiden auch zu uns ein, und ich werde die paar Stunden, in denen Inge und Fred von ihren ungeheuerlichen Erfahrungen während der NS-Zeit erzählten,
nie vergessen.

Weder unsere Elternhäuser noch Schulen und Universitäten hatten uns grundlegend über den Antisemitismus mit all seinen grausamen Folgen informiert und unterrichtet. Inge und Fred waren nur einen Nachmittag mit uns zusammen, aber seit damals war mir klar, dass ich mich mit dieser Gesamtthematik befassen musste. Langsam tastete ich mich an das Thema heran, und bis zu unserer Auswanderung in die USA hatte ich mir einige Grundkenntnisse angeeignet. Da ich mich noch an einzelne jüdische Familien, besonders wohl Kinder meines Alters, den Brand der Burghauner Synagoge an Vaters und meinem Geburtstag 1938 und die Deportation der letzten jüdischen Mitmenschen aus Burghaun im September 1942 erinnern konnte, hatte die Beschäftigung mit der Thematik immer ganz feste Bezugspunkte in meinem eigenen Umfeld, und die Ermordeten sah ich mit den Augen eines Menschen, der einige von ihnen persönlich gekannt hatte.

In Seattle, wo es zahlreiche jüdische Gemeinden verschiedener Prägung gab, hatte ich schon sehr früh persönliche Begegnungen mit jüdischen Menschen. Ich konnte schnell Kontakte knüpfen, und die Erzählungen über mein Heimatdorf und das, was ich noch von den Ereignissen zwischen 1938 und 1942 wusste, halfen mir dabei sehr. Bald nahm ich die Thematik in manchen Predigten, in Bibelstunden und besonderen Veranstaltungen auf. Da ich regelmäßige Radiogottesdienste über KMO-Tacoma im Bereich des Paz. Nordwestens senden konnte, habe ich auch bei diesen Gelegenheiten das Thema Antisemitismus und „Endlösung“ im Holocaust angesprochen; zunächst sehr verschlüsselt und zögernd, bald aber auch direkt. Zwischen 1977 und Herbst 1980 habe ich insgesamt 83 Radiogottesdienste zu guter Sendezeit (sonntags von 8:30 – 9:00 Uhr)  gehalten, und so wurde meine Thematik weitreichend bekannt.

Da ich auch in der deutschen Zeitung (Continental Reporter) und bei zwei Rundfunkinterviews Stellung zum Thema Antisemitismus etc. bezogen hatte, blieben Anfeindungen, üble Anrufe, Kritik in der Gemeinde usw. nicht aus, was mich bestärkte, noch intensiver daran zu arbeiten. Seit dem Herbst 1981 gehörte ich zum Organisations- und Vorbereitungsteam für die internationale Holocaustkonferenz, die im Frühjahr 1983 in Seattle stattfinden sollte. Meine Beziehungen zu Menschen jüdischen Glaubens wurden dadurch immer zahlreicher und intensiver, und die Erinnerung am mein Heimatdorf und dessen ehemalige jüdische Gemeinde wurde mir zur Verpflichtung und Ermutigung für mein Studium des Judentums etc. Wir hatten als einen prominenten Gast und Redner für die Konferenz Eberhard Bethge – Freund D. Bonhoeffers und Herausgeber seiner Gesammelten Schriften – eingeladen. E. B. war dann im Frühjahr 1983 anlässlich der Konferenz einige Tage Gast in unserem Haus, und ich hatte die Gelegenheit, mit ihm über Bonhoeffer und Themen, die besonders die Stellung der Kirche zu den Menschen jüdischen Glaubens während der Nazizeit und danach betrafen, ausführlich zu sprechen. Ermutigt und herausgefordert durch ihn, der in mir einen Partner „für die Entdeckung gemeinsamer Anstrengungen einer Theologie nach Auschwitz“ sah ( Widmung in einem Sonderheft Theol. Existenz heute, D. Bonhoeffer im Gespräch mit Karl Barth, Schweizer Korrespondenz 1941-1942 ), wurde mir für den Rest meines Lebens das Hauptthema vorgegeben.

Die Jahre in Big Timber, Montana konnte ich zu intensivem Studium nutzen, denn meine Gemeinde ließ mir großen Spielraum und unterstütze meine Studien. So konnte ich in Predigt, Bibel- und Kirchengeschichtsseminaren, in der jüdischen Gemeinde Billings, am College in Billings etc. mein Lebensthema immer wieder zur Sprache bringen, es aktualisieren und erweitern. Eine Veröffentlichung über „The Satanizing oft the Jews“ by Joel Carmichael im Theologischen Forum für die UCC (Volume 14, Nr. 1, 1999) hat damals innerhalb der UCC in den USA Anklang und gute Kritiken gefunden. Immer habe ich da, wo es möglich und nötig war, Bezüge zu meinem Heimatdorf mit seiner jüdischen Bevölkerung hergestellt, Namen und Schicksale genannt (siehe mein Buch „Hitler Kaput“, Big Timber 1985). Die Aufforderung mancher Freunde, doch einmal ein Buch darüber zu schreiben, hat mich auch nach Deutschland begleitet, und vor drei Jahren hat mir Anna während eines Gesprächs über den Holocaust gesagt: „Bitte schreib das auf, Opi!“ Auf meine Bitte hin hat sie mir zwölf Fragen gestellt, die dann mehr oder weniger den Rahmen meines Buches „Bitte schreib das auf, Opi!“ bestimmten und zusammenfassend im Schlussteil des Buches beantwortet werden.

Durch  meine Schwester Elisabeth und ihre Bücher über „Jüdisches Leben im Hünfelder Land“  war ich auch in näheren Kontakt mit Alfred Strauss und Fred Browning gekommen. Wir freundeten uns an, und Heide und ich haben in den letzten Jahren drei mehrtägige Besuche bei Alfred in der Nähe von New York gemacht und bei diesen Gelegenheiten auch Fred und Hansi Browning besucht. Mein Buch habe ich Alfred Strauss und Fred Browning, aber auch Inge Heiser geb. Nussbaum und Alfred Braunschweiger als Repräsentanten der jüdischen Menschen gewidmet, wobei ich ganz besonders an die jüdischen Frauen, Männer und Kinder meines Heimatdorfes und des Altkreises Hünfeld gedacht habe. Im Herbst 2011 konnte ich Fred und Hansi Browning noch die Widmung des Buches vorlesen, worüber sie sehr erfreut waren. Fred Browning ist im Frühjahr 2012 verstorben, und die Todesanzeige seiner Frau Hansi habe ich vor ein paar Tagen (25. Januar 2013) erhalten. Es schmerzt mich, dass sie mein Buch, in dem auch ihre ungewöhnliche Lebensgeschichte nach den Recherchen meiner Schwester Elisabeth berichtet wird, nicht mehr lesen konnten.
Such is life!